Sexuell gesund im 21. Jahrhundert - Neue Initiativen und Projekte in Deutschland

News: Medizin

Für Sie aufgespürt und zusammengefasst von Dr. rer. nat. Marcus Mau.

Sexuell übertragbare Krankheiten nehmen seit Jahren deutlich zu, mitunter um bis zu 20 % pro Jahr. Vielfach gibt es große Versorgungslücken und auch Unkenntnis über die Folgen sexuell übertragbarer Infektionen (STI). Es stellt sich die berechtigte Frage: Wie also in Zukunft diesem Trend entgegenwirken? - WIR auf einem kleinen Ausflug ins neu aufflammende LIEBESLEBEN der Deutschen.

Wer weiß, dass z. B. Chlamydien unfruchtbar machen können? Sicher nur sehr wenige. Doch Wissenslücken finden sich teilweise auch beim ­medizinischen Personal. Daher wird das Thema Fortbildung im neuen und bisher für Deutschland in dieser Art einzigartigen "Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin - Walk In Ruhr (WIR)" sehr großgeschrieben. Prof. Norbert H. Brockmeyer, Mit-Initiator und Ärztlicher Leiter hierzu: „Auch viele Mediziner wünschen sich zu diesem Thema qualifizierte Angebote." Der Forschungsdirektor der Universitäts-Hautklinik in Bochum hat viel Arbeit in den Aufbau des Zentrums investiert. Unverzichtbar für die erfolgreiche Arbeit ist zudem die konstruktive Zusammenarbeit mit Arne Kayser, Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Bochum, und mit Frau Wach vom Gesundheitsamt Bochum.
Die Gründe für die breite Unterstützung für das WIR sind für Prof. Brockmeyer klar: „Wir alle arbeiten im Walk In Ruhr Hand in Hand." Health Advisor empfangen Ratsuchende, führen Erstgespräche und leiten sie an die richtige Stelle weiter. Sprach- und Zugangsbarrieren werden so gleich von Anfang an abgebaut.

Eine interdisziplinäre Familie
All dies dient dazu, durch Information und Aufklärung das Präventionsverhalten zu stärken, Diagnosen möglichst viel früher zu stellen und schnellstmöglich therapieren zu können. „Offen sind wir auch für Menschen mit dem Wunsch nach Sexualberatung, für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch und vieles mehr. WIR umfasst eben tatsächlich alle. Die Zahl der Ratsuchenden steigt zudem kontinuierlich an“, betonte Prof. Brockmeyer. Neben dem Einsatz für den Patienten – für alle Beteiligten an erster Stelle – steht die wissenschaftliche Arbeit (Projektkonzeptionen, anonyme Datenerfassung und Auswertung), die auch dem Patienten letztlich durch verbesserte Aufklärungs- und Therapiestrategien zugute kommt.

Aufmerksamkeit durch Information
Das Gesamtkonzept wird ergänzt durch eine breite Medienarbeit. Die Ziele sind klar gesteckt: Die Menschen früh erreichen, um ihre sexuelle Gesundheit zu stärken, Therapien auf hohem Niveau anzubieten und darüber breit zu informieren. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) misst diesem Modellprojekt für sexuelle Gesundheit in Bochum ebenfalls sehr große Bedeutung zu und wird das Zentrum deshalb für die nächsten drei Jahre zusätzlich begleitend evaluieren.

Sexuelle Gesundheit und Medizin inmitten der Gesellschaft
Sexualität ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Sie dient der Fortpflanzung, der eigenen Persönlichkeitsfindung sowie der Befriedigung von Lust. Dennoch ist Sexualität bei uns noch immer ein großes Tabu. Jeder (be)treibt es in irgendeiner Form, doch darüber sprechen, selbst mit dem eigenen Partner, scheint oft ein schier unüberwindbares Hindernis. Genau an dieser Stelle soll das WIR in Bochum ansetzen. Durch seine Innenstadtlage, inmitten der Gesellschaft, ist es für jedermann zu sehen und leicht zu erreichen. Die Versorgung ist anonym und risikoadaptiert organisiert. Mitarbeiter und Patienten schaffen gemeinsam ein eher familiäres denn ein klinisches Gefühl. Dies wird noch durch das Begegnungscafé weiter verstärkt. „Wir möchten nicht über die Menschen, sondern mit ihnen sprechen“, drückte Prof. Brockmeyer das Lebensgefühl am neuen Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum aus.
In seiner Zukunftsvision soll das WIR Tabus brechen, Forschungsarbeit leisten und helfen, neue Strukturen in Deutschland zu schaffen, wie beispielsweise die Health Advisors. Ungewöhnlich und zukunftsgewandt ist denn auch der Ort des neuen Zentrums innerhalb einer progressiven katholischen Einrichtung wie des St. Josef-Hospitals.

Zusammenarbeit und Vernetzung als Stärke
Die Venerologie hat seit jeher Leuchtturmfunktion am medizinischen Wissenschaftsstandort Bochum. Dennoch ist das WIR nicht nur eine Weiterentwicklung bestehender universitärer Strukturen. Es geht vielmehr darüber hinaus und verbindet erstmals in Deutschland sechs sehr unterschiedliche Spieler, die alle ein gemeinsames Ziel verfolgen: Die sexuelle Gesundheit der Menschen. Im WIR haben sich derzeit die folgenden Partner zusammengeschlossen:

Jeder der sechs Partner trägt mit den eigenen Möglichkeiten zum Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin (WIR) bei. In der Summe bringen sie gemeinsam wie ein Zahnrad mit seinem Nachbarn das Uhrwerk zum Laufen. Wie wichtig diese Kooperationen im Gesundheitswesen, gerade mit Blick auf Sexualität und sexuell übertragbare Infektionen sind, fasste Prof. Brockmeyer wie folgt zusammen: „Sexuelle Gesundheit meint weit mehr als nur Geschlechtskrankheiten. Dazu gehören eben auch Schwangerschaft, Krebs, Zeugungsfähigkeit, Erektionsvermögen und anderes; nicht zu vergessen die psychosoziale Gesundheit." Auch die Weltgesundheitsorganisation sieht den Schlüssel zur sexuellen Gesundheit mittlerweile im „positiven und respektvollen Herangehen an Sexualität".

Kampagne LIEBESLEBEN der BZgA
Der liberalen Aufklärung entsprechend, passt sich die Idee des neugegründeten „WIR – Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin“ auch wunderbar in eine aktuelle Kampagne der BZgA ein. Mit „LIEBESLEBEN“ steht die Vermeidung von Neuinfektionen bei HIV und anderen STI in der Allgemeinbevölkerung erneut im Zentrum der Anstrengungen. Die Kampagne ist vollständig als Cartoon-Serie umgesetzt worden und macht so auf lustige Weise mit dem Thema vertraut. Die vermittelten Kernbotschaften sind ebenso einfach wie einprägsam. Das ist durchaus gewollt, denn schließlich ist Sex nicht gerade eine Sache des Verstandes. Kurze prägnante Botschaften und lustige einprägsame Bilder, das ist Aufklärung im 21. Jahrhundert.

Zanzu – nicht nur für Migranten
Wer es dennoch etwas fachlicher und wissenschaftlicher mag, der sei zudem an die Seite „Zanzu – Mein Körper in Wort und Bild“ verwiesen. Ursprünglich als Informationsportal rund um Körper, Gesundheit und Sexualität für Migranten gestartet, bietet das Portal auch der Allgemeinbevölkerung vielfältige Informationen zu diesen Themen. Selbst Ärzte sind herzlich eingeladen, dieses Portal zu nutzen und in ihre Beratung mit einzubeziehen. Mit den Bildfolgen lässt sich so manche Sprachbarriere überwinden oder auch die eigene Sprache in Sachen Sexualität wiederfinden. Ebenso nutzen es Multiplikatoren für ihre Arbeit mit Migranten.

Fazit
Sexuelle Gesundheit umfasst neben Geschlechtskrankheiten vor allem auch Sexualität, die psychosoziale Gesundheit, die Fertilität, Erektionsvermögen, gesellschaftliche Aspekte und vieles mehr. Bisher ist die Prävention und Versorgung der Allgemeinbevölkerung sowie von Patienten mit HIV und/oder STI dezentral und wenig gut vernetzt. Dadurch entstehen gerade bei der Kenntnis über mögliche Ansteckungsrisiken, aber auch bei der medizinischen Versorgung von Patienten gravierende Lücken, welche die Ausbreitung der STI in den vergangenen Jahren noch beschleunigt haben. Mit dem WIR – Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum gibt es eine in dieser Art bisher einmalige Einrichtung, welche die Prävention, Diagnostik, Therapie und psychosoziale Beratung unter einem Dach vereint und die Kräfte der einzelnen Kooperationspartner gezielt bündelt. Im Fokus steht der Mensch mit seiner selbstbestimmten, gesunden Sexualität und seinem/ihrem individuellen Recht auf einen wertschätzenden, tabulosen und vorurteilsfreien Umgang – ganz im Sinne der Grundsätze der Aufklärung.
Doch auch auf Bundesebene zeigen Projekte wie „LIEBESLEBEN“ oder „Zanzu“, dass die sexuelle Gesundheit die Vorstellung von Sex als etwas Krankmachendes längst abgelöst hat. Nicht Ängste stehen im Mittelpunkt, sondern die Information und Erziehung zur eigenen sexuellen Gesundheit und Verantwortung, diese zu erhalten. Dabei – und das ist ein sehr erfreuliches Signal – werden auch zuvor an den Rand gedrängte Gruppen, wie z. B. MSM, gleichberechtigt angesprochen und beworben.
Dies alles spiegelt ein gesundes Verständnis von Sexualität wider und könnte den Grundstein legen für die sexuelle Gesundheit im 21. Jahrhundert.

Quellen:
Symposium anlässlich der Eröffnung des WIR – Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin in ­Bochum, 2016
(Beitrag erstmals erschienen in DER PRIVATARZT Urologie 3/2016)
DocCheck News vom 12.08.2016


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